Suizid verstehen*
Wie kommt es dazu, dass man sein Leben beenden will?
Das Leben besteht aus Höhen und Tiefen, die wir alle durchmachen müssen. Manchmal sind unsere Probleme so stark, dass wir Schwierigkeiten haben, unser psychisches Gleichgewicht wieder zu finden. Das bezeichnet man als Krise. Durch die Krise verlieren wir unsere üblichen Fähigkeiten, mit Stressfaktoren, die uns in einem Zustand der Verletzlichkeit versinken lassen, fertig zu werden. Suizidgefährdete Menschen sind Menschen, die Krisen durchmachen.
Eine Krise ist häufig durch mehrere Einzelheiten gekennzeichnet: Ein auslösendes Ereignis, ein Beschleunigungsfaktor, eine Form der Konfliktlösung, usw.
Der Auslöser
Der Auslöser kann in Form einer Anhäufung von Stressfaktoren auftreten (z.B.: Liebeskummer, gefolgt von schulischen Problemen und Konflikten mit Freunden oder der Familie, usw.). Auch ein Schockerlebniss (z.B.: ein plötzlicher Tod oder emotionaler Verlust, ein traumatisierender Unfall, usw.) kann ein Auslöser darstellen. Chronischer Stress (z.B.: Unstimmigkeit in der Ehe, Überforderung bei der Arbeit, usw.), oder eine Aneinanderreihung von Stressfaktoren (z.B.: eine Trennung, die den Verlust der Wohnung und der Freunde, Isolierung und Rückgang des Kontakts zu den Kindern zur Folge hat oder ein Umzug, der einen Schulwechsel, den Verlust der Freunde und die Einstellung der Sport- und Vereinsaktivitäten zur Folge hat) können ebenfalls Auslöser werden.
Alle diese Faktoren können einen Menschen in eine Phase der Verletzlichkeit und des psychischen Ungleichgewichts bringen. Dies tritt ein, wenn ein Mensch einer zu großen Spannung ausgesetzt ist und der Körper es nicht mehr schafft, sie auszugleichen. Die üblichen Anpassungsmechanismen reichen nicht mehr aus, um die Situation zu bewältigen. Der Krisenzustand steht dann unmittelbar bevor und kann durch einen Beschleunigungsfaktor ausbrechen.
Der Beschleunigungsfaktor
Der Beschleunigungsfaktor kann ein scheinbar harmloses Ereignis sein, aber er ist im wahrsten Sinn des Wortes der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Dieses Ereignis wird von der Person als symbolisch wichtig und bedeutsam wahrgenommen und daraus entsteht die Verzweiflung. Das dadurch hervorgerufene Ungleichgewicht erzeugt eine Spannung, die für die Person unerträglich wird. Da die Person diese Spannung so schnell wie möglich verringern möchte, wird sie die Idee des Suizids als Möglichkeit begreifen, die Spannung abzubauen. Auch andere Handlungsweisen, wie aggressives Verhalten (z.B. Schlägereien, Aggressionen gegen sich selbst, usw.), sind möglich.
Suizidiäres Verhalten bewirkt ebenso wie aggressives Verhalten ein Nachlassen der Spannung und hilft somit, mit der Krise umzugehen, selbst, wenn damit negative Konsequenzen verbunden sind.
Die Entwicklung von der Krise zum Suizid
Der vollzogene Suizid geschieht sehr selten im Affekt, sondern entsteht in einem Prozess, den man in fünf aufeinander folgende Phasen einteilen kann.
Phase 1 : Die Suche nach Lösungen, um die Krise aufzuhalten
Die Person macht eine Bestandsaufnahme verschiedener möglicher Lösungen, um sich besser zu fühlen und die Krise zu bewältigen. Jede dieser Lösungsversuche wird ausgewertet, um zu beurteilen, ob sie eine Änderung des Schmerzes bewirken kann. Manche Menschen verfügen über ein breites Spektrum an Lösungen und können Strategien ermitteln, um die Krise rasch zu bewältigen. Bei anderen Menschen ist das Lösungsspektrum eingeschränkter, oder es nimmt dadurch ab, dass die Lösungen nicht den gegenwärtigen Bedürfnissen gerecht werden. In diesem Stadium wird die Idee des Suizids noch nicht oder kaum in Betracht gezogen.
Phase 2 : Der flüchtige Suizidgedanke und die Entstehung der Idee
Während der Suche nach Lösungen und in dem Maße, in dem sich manche Lösungsversuche als nutzlos erweisen, kommt es vor, dass die Person den Suizid als eine der Lösungen betrachtet, die in Frage kommen, um das Leid zu beseitigen. Der Suizid taucht immer wieder als Lösungsidee auf, man verweilt jedes Mal ein bisschen länger dabei, und die möglichen Szenarien werden jedes Mal ein bisschen deutlicher ausgearbeitet.
Phase 3 : Das Grübeln über die Suizididee
Der Leidensdruck wird immer unerträglicher, und der Wunsch ihm zu entkommen verstärkt sich. Die Unfähigkeit, die Krise zu bewältigen, und das Gefühl, alle Lösungsmöglichkeiten ausgeschöpft zu haben, bewirken eine große Angst. Die Suizididee taucht ständig und regelmäßig auf, sie ist quälend und Angst einflößend. Dadurch werden der Leidensdruck und der Schmerz verstärkt.
Phase 4 : Die Konkretisierung und Ausarbeitung eines Suizidszenarios
Die Person wird von der Verzweiflung übermannt. Nun ist der Moment gekommen, in dem der Suizid der Person als die einzige Lösung erscheint, die ihrer Verzweiflung und ihrem Leiden ein Ende setzen kann. Wenn dieses Stadium erreicht ist, kommt es normalerweise zur Ausarbeitung eines genauen Plans, d.h. zur Festlegung des Datums, der Uhrzeit, der Art und des Ortes.
Phase 5 : Das auslösende Element und die Ausführung der Tat
Dieses Ereignis ist oft der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, und es tritt am Ende einer langen Aneinanderreihung von Verlusten und Misserfolgen ein.Abschließend lässt sich sagen, dass der Suizidprozess dynamisch verläuft und je nach Mensch und Begleitumständen unterschiedlich ist. Das ständige Vorhandensein der Ambivalenz macht jedoch ein Eingreifen möglich, und deshalb können wir alle einem suizidgefährdeten Menschen helfen, andere Alternativen als den Tod in Erwägung zu ziehen. Dieser Prozess ist nicht irreversibel: Man kann zu jedem Zeitpunkt eine Suizidgefährdung überwinden.
* Diese wertvollen Informationen stammen aus dem hervorragenden Buch zum Thema von Monique Séguin (siehe Literaturtipps).